Großzelliges diffuses Lymphom
Erfahrungsbericht einer Patientin [37 Jahre] mit großzelligem diffusem Lymphom
(April 2007, aktualisiert im Dezember 2010 und Januar 2013)
Diagnose „Krebs“
(Juli 2003)
Wir sitzen beim Abendbrot. Wie gewöhnlich. Wir schauen uns lächelnd an, dann überfällt es uns wieder: Tränen rollen aus unseren Augen. Auf das Essen. Uns ist das egal. Die Tränen fallen einfach aus dem Gesicht, ohne dass wir sie aufhalten können und wollen. Denn auf einmal ist alles in Frage gestellt. Sicherheit gibt es nicht mehr. Wir beten in Todesangst laut, schreien zu Gott, liegen uns in den Armen und verklammern uns. Die monatelange diffuse Suche nach der Ursache meiner Schmerzen hat ein Ergebnis. Die Ursache ist: Krebs – ein sehr schnell wachsendes Lymphom, um genau zu sein.
Auch die Seele braucht Hilfe
Doch nicht nur der Körper ist krank. Auch die Seele braucht Hilfe. Von wem kann man in dieser existenziellen Lebenssituation Unterstützung bekommen? Ich denke: Erste Anlaufstelle müsste für mich eigentlich die Kirche sein. Doch der Pastor, der uns in Kürze vor dem Altar trauen will, ist mit unseren Ängsten, die an die Stelle von Vorfreude auf das Hochzeitsfest getreten sind, so überfordert, dass er sich kurzerhand zurückzieht. Ich finde das jämmerlich und schwach. Auch keiner meiner Kollegen und Kolleginnen aus der Gemeinde ruft mich an und fragt, wie es mir geht. Und mein Arbeitgeber, ein Seelsorger, der Superintendent, zweifelt sogar daran, dass ich wirklich krank bin. Dass er es immer noch nicht glaubt, als er schon die Krankschreibung aus der Krebsklinik in den Händen hält, verletzt mich zu sehr. Nach diesen Erfahrungen ist das Plakat der Krankenhaus-Seelsorge für mich keine Einladung mehr. Persönlich erscheint auch niemand von der Krankenhaus- Seelsorge. Dabei wäre es nötig, denn was folgt, ist die Hölle.
Zeit der Ungewissheit
Die erste Zeit ist die schwerste. Am Anfang vage Vermutung, dann schwindende Hoffnung, die schrecklicher Gewissheit weicht. Die Wochen bis zur sicheren Diagnose dehnen sich bis ins Unendliche. Dabei wechseln Angst und Hoffnung im Minutentakt. Von den Ärzten und Ärztinnen wünscht man sich vor allem Auskunft. Aber die haben auch Angst: etwas Falsches zu sagen - und sagen dann lieber gar nichts. In meine flehenden Augen, die um mehr Information bitten, schauen sie nicht hinein. Und ich? Muss ich Abschied nehmen? Von meinem geliebten Partner, von meinen Eltern, von meinen Freunden? Darf ich nicht mehr die Sonne auf meiner Haut spüren, den Windhauch an meiner Wange? Zerfällt mein Körper nach und nach?
Lebenswille
Es gibt eine Verabredung in unserer Gesellschaft, dass man über Krebs nicht spricht. Es ist ein Tabu. Krebs, da denkt man natürlich an Leiden, Vereinsamung, Sterben. Darüber spricht man nicht. Auch nicht unter Freunden. Als ich zu erahnen beginne, dass ein bösartiger, extrem schnell wachsender Krebs in mir ist, fühlt es sich an, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ich denke immerzu: wer Krebs hat, stirbt. Woran ich gar nicht dachte: Es kann auch alles ganz anders kommen: In einem ruhigen Moment, allein im Krankenzimmer, mit dem Blick nach draußen in die Weite des sommerlich blauen Himmels, spüre ich plötzlich: Ich will leben! Und ich werde leben. Alles, was mir hilft, zu leben und nicht zu sterben, ist gut. Die Medizin, das Zellgift der Chemotherapie mit den starken Nebenwirkungen, welches auch viele gesunde Zellen tötet, kann meine Krebszellen vernichten. Es ist mein Lebenselixier, auch wenn ich zuerst „ein bisschen sterben muss“. Ich werde meine Kraft von innen holen und wachsam für die schönen Dinge sein, die sonst unbemerkt geschehen und im hektischen Alltag zu oft übersehen werden.
Unterstützung durch den Partner
Ein ganz leises und doch ungemein ausdrucksstarkes Zeichen bekomme ich von meinem Mann. Statt einer Trauung vor dem Altar sagt er viel deutlicher „Ja“ zu mir. Zeigt mir, dass er das „…bis dass der Tod Euch scheidet“ ernst meint. Seine Hand auf meinem Arm, ein Blick, und der Satz: „Da gehen wir gemeinsam durch“ gibt mir die unverrückbare Gewissheit, ich muss nicht alles alleine tragen, wir tragen zu zweit. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Partner kapseln sich ab, weil ihnen die Angst die Kehle zuschnürt, andere können überhaupt nichts mittragen und verlassen – wie mir andere Patientinnen erzählen – die kranke Partnerin. Ich habe Glück. Mit Liebe, Zärtlichkeit, Diskussionen und sogar Lachen habe ich mit meinem Mann eine sehr intensive Zeit, die unser Zusammengehörigkeitsgefühl noch erhöht. Das brauchen wir auch. Denn nachdem die genaue Diagnose gestellt ist, stehen Entscheidungen an, schnelle Entscheidungen, weil mir nicht mehr viel Zeit bleibt: Verlegung in eine Spezialklinik in einer anderen Stadt, Wohnungsauflösung, Umzug, Formalitäten.
Der „Deal“ mit Gott
Mit dem Beginn der Chemotherapie kommt eine Zeit des Vertrauens. Vertrauen auf die Ärzte und auf die Möglichkeiten der Medizin. Was wird, kann mir niemand sagen. Der Ausgang ist und bleibt ungewiss. „Gott“, bete ich, „du entscheidest über Leben und Tod. Ich weiß nicht, was du entscheidest, und es steht mir auch nicht an, dir zu sagen, was du mit mir machen sollst. Sogar Jesus hat sich im Garten Gethsemane deinem Willen gefügt und nichts von dir gefordert. Wie könnte ich dann von dir verlangen, mich leben zu lassen, wenn nicht mal er das konnte?“ Also treffe ich mit Gott eine Vereinbarung: „Gott, die Chance, bei meiner Krebserkrankung zu überleben, liegt bei siebzig Prozent, wie ich jetzt weiß. Dreißig Prozent dagegen beträgt in etwa die Wahrscheinlichkeit, dass ich die Krankheit nicht überlebe. Aber ich kann mich noch nicht aufs Sterben einstellen. Ich bin zu jung. Und wie kann ich mich gleichzeitig auf das Sterben einstellen, wenn ich jetzt um mein Leben kämpfen muss? Deshalb Gott, verspreche ich dir: Wenn du dich um mich kümmerst, wenn ich sterben muss, dann übernehme ich die Verantwortung für den verbleibenden Anteil. Während der harten Zeit der Behandlung werde ich so gut mit mir umgehen, wie es mir nur irgend möglich ist. Und ich möchte denen, die mich lieben, nicht mehr Sorge als nötig bereiten, damit sie die Kraft haben, diese für sie ebenfalls schwere Zeit gut zu überstehen“. Angst vor dem Tod hatte ich von da an nicht mehr. Für mich war klar, dass Gott es in seine Hand nehmen würde, wenn ich sterben müsste. Er würde mir dann zumindest die Kraft geben, mich auf das Sterben einzustellen.
Die Zeit der Therapie
(August 2003 – März 2004)
Die nun folgenden Monate verliefen erstaunlich ruhig. Ein regelmäßiger Zyklus von Behandlung, körperlicher Schwäche und Beschwerden, Erholung und erneuter Behandlung verlangte ein sehr diszipliniertes Leben. Die durch die Zellgifte hervorgerufene Abwehrschwäche machte es mir schwer, unter Menschen zu gehen. Mein Radius beschränkte sich auf das Krankenhaus, unsere Wohnung, und ein Stück Natur vor unserer Haustür: ein paar Felder und einen Fluss. Finanzielle Einschnitte befürchteten wir nicht. Ich hatte Anspruch auf Krankengeld, da ich vor der Erkrankung in einem regulären Anstellungsverhältnis beschäftigt war. Ich begann, das deutsche Gesundheitssystem, wie es noch existiert, sehr zu schätzen und schaltete das Radio ab, wenn Politiker mehr „Eigenverantwortung“ von den Bürgerinnen und Bürgern forderten. Eigenverantwortung? Was soll das heißen? Eine „halbe“ Chemotherapie? Einige hunderttausend Euro selbst bezahlen? Während einer Hochdosis-Therapie einer Arbeit nachgehen, um den Lebensunterhalt zu sichern? Oder: Menschen wie mich gleich sterben lassen, weil sie der Solidargemeinschaft zur Last fallen?
Meine körperlichen Kräfte begannen gleich nach den ersten Tagen der Chemotherapie zu schwinden. Ich war sehr schwach und benötigte viel Schlaf, bis zu 16 Stunden täglich. Die von vielen gefürchtete Übelkeit war durch Medikamente gut in den Griff zu bekommen. Doch in dem Maße, in dem meine körperlichen Kräfte abnahmen, wuchs meine innere Kraft. Woher ich die Kraft bekam, weiß ich gar nicht so genau. Aber ich glaube, der „Deal“ mit Gott hat mir geholfen. Dadurch konnte ich mich auf das veränderte Leben einstellen. In keiner Phase meines Lebens ist es mir bisher gelungen, mich so vertrauensvoll auf alles, was sich in mir und um mich herum abspielte, einzulassen. Dass ich die Haare bald verlor – und zwar alle Haare, nicht nur die Kopfhaare – und wie eine „Billardkugel mit Brille“ aussah, störte mich nicht. Was ist das Aussehen schon gegen das Leben!
Das soziale Umfeld
Um zu überleben, war ich besonders auf den Beistand meiner Familie und meiner Freunde angewiesen. Ich bin ein sehr kommunikativer Mensch. In dieser Lage zu schweigen, hätte die Verleugnung meiner selbst bedeutet. Deshalb beschloss ich, das Tabu, nicht über Krebs zu reden, zu durchbrechen. Dabei hatte ich das Motto: „Ich erwarte von meinen Freunden nichts, aber ich mute ihnen alles zu.“ Wer Kontakt mit mir hatte, erlebte mich authentisch. Ich verstellte mich nicht und tat nicht so, als ob alles o.k. sei. Es war nicht alles o.k. – aber das Lachen hatte ich nicht verloren. Manche Verwandte und Freunde brauchten lange, um sich auf meine veränderte Lage einzustellen. Aber ich konnte ihnen die Zeit lassen, meine Krankheit zu akzeptieren und fasste es nicht als persönliche Kränkung auf, wenn sich jemand monatelang nicht meldete. Es half mir auch, dass ich in dieser schweren Zeit immer „ich selbst“ sein konnte. Die sich vertiefenden Beziehungen zu einigen Verwandten und Freunden und deren Treue zeigten mir das. Sogar neue Freundschaften entstanden. In einer Lebensphase, in der ich fast nie unter Menschen sein durfte, erlebte ich einen umso offeneren und ehrlicheren Dialog, der von Geben und Nehmen geprägt war. Den Kontakt hielt ich vor allem über E-Mail-Kommunikation aufrecht. Dieses Medium war in der Zeit der akuten Behandlung mein wichtigstes Fenster nach draußen.
Vertrauen
Ich bin überzeugt, dass das Jahr, in dem ich nicht wusste, ob ich es überlebe, zu einem wertvollen Jahr für mich wurde, weil ich mich demutsvoll dem Willen Gottes gebeugt habe. Den schönen Dingen im Leben, wie der Liebe, der Freundschaft und dem Dialog miteinander, maß ich mehr Raum bei als den äußeren, materiellen Dingen. Ich habe Gott vertraut, dass er mich trägt, im Leben und – wenn nötig – im Sterben. Und ich habe meinem Mann, meiner Familie und meinen Freunden vertraut und ihrer unerschütterlichen Liebe und Solidarität. Das alles hat mich getragen und mit zur Heilung beigesteuert.
Die Zeit danach
Und was bleibt? Bin ich wieder ganz normal ins Alltagsleben zurückgegangen? Hat sich etwas verändert? Erst mal bleibt die Angst, dass der Krebs wieder kommt. Bei jeder der vierteljährlichen Untersuchungen in den ersten zwei Jahren nach einer erfolgreichen Behandlung kommt die Angst hoch, doch noch sterben zu müssen. Was ebenfalls bleibt, ist das Wissen darum, dass ich in zukünftigen Krisen nicht alleine bin.
Was hat sich verändert? Nach diesem Einschnitt wusste ich nicht, wie mein Leben weitergehen würde. Ich hatte mich so auf das Überleben konzentriert, dass ich den Alltag ganz neu erlernen musste. Solange ich noch Krankengeld bekam, hatte ich noch keine echten Fragen, wie es nach dieser Zeit weitergehen könnte. Mein einziges Ziel war: Gesund werden. Doch seit ich wieder arbeitsfähig geschrieben war und im Status einer Arbeitslosen lebte, raubten mir Ängste und Fragen für die Zukunft ganz anderer Art den nächtlichen Schlaf. Wie komme ich nach zwei Jahren wieder zurück in die Arbeitswelt? Wie verhalte ich mich als Ex-Krebskranke, wenn mich bei Bewerbungsgesprächen jemand fragt, was ich die letzten zwei Jahre gemacht habe? Wer stellt überhaupt eine Ex-Krebskranke ein? Was ist mir an meiner nächsten Arbeitsstelle wichtig? Ich wollte nicht nur im Status des Überlebens verharren, ich wollte wieder hinein, mitten ins Leben! Ich musste auch da geduldig sein und auf Antworten warten. Und vertrauen, dass Gott nicht nur im Sterben bei mir ist, sondern mich auch zurück ins Leben begleitet.
Berufliche Neuorientierung und Kinderwunsch
(Frühjahr 2004 bis Frühjahr 2007)
Ein sehr schwieriges halbes Jahr lag im Sommer 2005 hinter mir. Ich hatte nicht geahnt, dass mich die im Januar beginnende Arbeitslosigkeit, die sich an die anderthalb Jahre, in denen ich krankgeschrieben war, in eine so tiefe Krise stürzen würde. Eigentlich war ich ja gesund. Den Alltag zu meistern, verlangte mir keine besondere Kraft ab. Waldspaziergänge waren kein Training mehr, sondern Erholung. Und je weiter meine Erkrankung zurück lag, desto mehr schwand das Risiko, einen Rückfall zu erleiden. Beruflich hatte ich zwar einen ersten Schritt getan, aber es war eine ehrenamtliche Arbeit. Das Arbeitsfeld lag mir sehr, nämlich, sich für Familien mit behinderten Kindern einzusetzen. Aber eine Bezahlung war nicht in Sicht, und mit der Zeit fühlte ich mich auch unterfordert. Ich hatte einige Initiativbewerbungen verschickt und etliche „Klinken geputzt“. In mein ursprüngliches Arbeitsfeld in der Kirche konnte ich nicht zurück, und wollte es auch nicht. Was sollte ich also als Quereinsteigerin und Ortsfremde in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit - und dann auch noch als Ex-Krebskranke - tun? Wo sollte mein Leben überhaupt hingehen? Ebenso groß wie mein Wunsch, wieder ins berufliche Leben einzusteigen, war der Wunsch, jetzt endlich ein Kind zu zeugen und dann auch eins zu bekommen. Aber auch da war noch rotes Licht von Seiten meiner Ärztin, die sagte, ich müsse noch verhüten. Außerdem fühlte ich mich weiterhin in der neuen Stadt fremd, in der wir nur lebten, weil mein Mann hier im Sommer 2004 eine neue Stelle angenommen hatte. Heimat war es noch nicht geworden und Freunde zu finden, war an diesem Ort eine komplizierte Angelegenheit.
Mit all diesen Sorgen fuhr ich mit meinem Mann im Juli in den Sommerurlaub. Da wir für uns beschlossen hatten, ich wäre jetzt gesund genug, um schwanger zu werden, hatten wir im Kopf, dass dies vielleicht der letzte Urlaub ohne Kind sein könnte. Und dementsprechend machten wir auch einen Urlaub, wo man täglich das Programm ändern konnte. Wir begannen unseren Urlaub im Allgäu und setzen ihn in Richtung Süden in die Bergwelt der Schweiz fort. Hier erklomm ich allen Vorhersagen meiner Ärztin zum Trotz meinen ersten Dreitausender - mit viel Anstrengung zwar, aber zweifellos stand ich nach der Plackerei wieder auf einem Gipfel. Wir beendeten die Reise schließlich am sonnigen Comer See in Oberitalien.
Kind oder Arbeit? Sowohl als auch!
Als wir nach dem wundervollen Urlaub wieder zuhause ankamen, erfuhr ich als erstes, das eine meiner Bewerbungen Erfolg hatte. Schon eine Woche später begann ich als Vollzeitkraft zu arbeiten. Bei der Zusage zitterten mir die Knie: Konnte ich das, so ad hoc in einen neuen, so fordernden Beruf einsteigen? Doch schon bald merkte ich, dass mir diese neue Herausforderung sehr lag. Anstrengend, ja, aber auch erfüllend. Eine Frage, die mich sehr geplagt hatte, war bald beantwortet: Nämlich ob ich zuerst ein Kind oder eine Arbeitsstelle haben wollte und wie ich meine Wünsche vereinbaren und in die Realität umsetzen könnte. Die Antwort ergab sich quasi von selbst, und lautete: gleichzeitig! Knapp 4 Monate schaffte ich es, mit einem immer dickeren Bauch als Quereinsteigerin erfolgreich meiner neuen Aufgabe nachzugehen. Ende des Jahres wurde ich erneut krankgeschrieben, aber diesmal nicht wegen einer Krankheit, sondern, weil sich die enorme Arbeitsbelastung und das letzte Schwangerschaftsdrittel nicht mehr miteinander vereinbaren ließen. Beruflich bekam ich dann noch vor der Geburt unseres ersten Kindes die gute Nachricht: Ich hatte mich in meinem neuen Beruf so gut eingearbeitet, dass ich es angehen konnte, dort richtig Fuß zu fassen. Mit dem Wissen, nicht wieder ins berufliche „Aus“ zu gehen, konnte ich den Rest der Schwangerschaft so richtig genießen. Und ich konnte eine Idee entwickeln, wie ich in der neuen Stadt vielleicht doch ein paar Wurzeln schlagen könnte. Ich gründete ein Frauennetzwerk für Frauen in meinem Alter, die, wie ich, hier noch nicht ganz heimisch waren. Dadurch lernte ich nach und nach verschiedene Frauen kennen. Einige wurden zu Freundinnen.
Familienleben
Und dann kam termingerecht in der Osternacht 2006, passend zur Auferstehung nach dem Tod, spontan, ohne Schmerzmittel, unproblematisch und schnell unser Sohn zur Welt. Seitdem bin ich nun Mutter. Und das genieße ich in vollen Zügen - wie mein Mann sein Vatersein. Täglich freue ich mich über das neue Leben, das aus mir hervorgegangen ist. Die durchgemachten Nächte, die eingeschränkte eigene Zeiteinteilung, die neue Unsicherheit der Elternschaft, all das tangierte mich minimal im Vergleich zu dem, was ich an Glück empfand und empfinde. Ein schönes Geschenk ist es auch, dass wir ein sehr ausgeglichenes und meist glückliches Kind haben, das mit Ehrgeiz und großer Freude jeden Tag die Welt ein Stück mehr erobert, ein Kind, das schon jetzt vieles liebt, was wir als Eltern lieben, und was mich auch durch das schwere Jahr der Krebsbehandlung getragen hat: Musik, Natur, gutes Essen und offener Kontakt zu anderen Menschen.
Nachtrag im Dezember 2010
Wie ging es dann weiter:
Als unser Kind nun gut ein Jahr alt war, beschloss ich, noch einmal an die Universität zu gehen. Bereits 2 Jahre später hielt ich wieder ein Examen in der Hand und kurz darauf ging es mit der Ausbildung weiter, zum 2. Mal als Beamtin a.W..
Doch auch hier passierte es erneut: Ein zweites Kind kündigte sich an. Wir zogen also nochmals um, und diesmal in eine Wohnung, die viel Raum für unsere wachsende Familie bietet und die sich in einer für uns idealen Lage befindet.
Im Herbst 2010 kam das Kind gesund zur Welt.
Und meine Erkrankung?
Als ich das letzte Mal bei meiner Ärztin (Hämatologie) war, sagte sie mir: "Zu 99 % kommt diese Krankheit nicht wieder. Gehen Sie so in 2-3 Jahren zur nächsten Untersuchung."
Vorsorge jetzt.
Die Krankheit liegt also schon einige Jahre hinter mir und mein neues Leben in einer inzwischen 4-köpfigen Familie und Berufstätigkeit stellt mich vor neue Herausforderungen und erfüllt mich.
Für mich ist die Krebserkrankung jetzt ein Teil meiner Geschichte, die hinter mir liegt. Allerdings kann ich natürlich jetzt Krebskranke gut verstehen und deshalb bin ich für Krebskranke oder ihre Angehörige oftmals Ansprechpartnerin.
Nachtrag im Januar 2013
Mitten im Sommerurlaub 2012 bekam ich an meinen Geburtstag einen Epilepsieanfall. Mit Blaulicht wurde ich zum nächsten Krankenhaus gebracht. Dort ging alles so schnell, dass ich diesmal keine Zeit hatte, Angst zu bekommen. Nur eine leichte Befürchtung, dass ich doch noch einen Rückfall hatte - wirklich ziemlich unsinnig, was mir eigentlich auch bewusst war, weil ja ein Rückfall bei einem exponentielle wachsenden NHL innerhalb relativ kurzer Zeit erfolgt.
Und auch diesmal ließ ich wieder in das Krankenhaus überstellen, in dem ich bereits vor zehn Jahren behandelt wurde. Nur ging es diesmal nicht in die hämatologische Station, sondern in die chirurgische Abteilung. Mir war es wichtig, dass ich in einem guten Krankenhaus in einer richtigen Großstadt behandelt wurde. Ich kenne einige Menschen in unser kleinen Großstadt, in der wir seit 8 Jahren leben, bei denen es bei Operationen oder Behandlungen zu schweren Behandlungsfehler kam.
Als sich mein behandelnder Arzt vorstellte, freute ich mich, dass ich mit diesem Arzt auch einen freundlichen zugewandten Menschen vor mit hatte.
Gleich am nächsten Tag wurde ich operiert. Inzwischen war klar, dass in mir ein Mengiom im Kopf gewachsen, was ca. die Größe eines Tennisballes besaß. Die Operation dauerte 7,5 Stunden und mir wurde dabei auch eine neue Kopfplatte eingebaut. Ein Mengiom ist zwar ein "gutartiger" Krebs, dessen Krebszellen nicht streuen, aber er wächst trotzdem. Im meinem Fall war er durch den Schädel gewachsen. Die Operation und in ihre Nachwirkungen haben mich seelisch nicht beansprucht. Ich war einfach nur froh, dass ich diesmal einen anderen Krebs hatte, der durch eine Operation entfernt werden konnte.
Nach zwei Wochen fuhren wir wieder nach Hause. Die Kinder haben von der Erkrankung wenig mitbekommen. Die 2-Jährige sowieso nicht. Und der 6-jährige glaubt, dass ich die Beule im Kopf bekommen habe, weil ich meinen Kopf an einer harten Lampe gestoßen habe.
Seit Herbst 2012 bin ich wieder fit. Zwar muss ich jetzt Medikamente nehmen, um keinen weiteren Epilepsieanfall zu bekommen. Aber das beeinträchtigt mich nicht.
Nachtrag: ALS
Krebs - die schrecklichste aller Krankheiten??? Bei meinem Vater wurde Mitte 2009 ALS diagnostiziert. Das ist die Krankheit, die auch Stephen Hawking ("dunkle Löcher") hat - bloß leben die meisten Menschen nach der Diagnose nur noch wenige Jahre. Bei meinem Vater begann die Krankheit im Kopf. Im Sommer 2010 konnte er nicht mehr sprechen. Und er ertrank und erstickte gleichzeitig an seinen eigenen Speichel. Das gleichzeitige Ertrinken und Ersticken war in seinem letzten Jahr auch sein einziges Thema. Im Frühjahr 2011 konnte meine Mutter die Pflege nicht mehr leisten. Mein Vater war dann noch 9 Tage in einer Palliativstation, bis er starb - er konnte zum Schluss keinen einzigen Muskel seines Körpers mehr bewegen, er lag nur noch bewegungslos da, ertrinkend und erstickend. Drei Tage vor seinem Tod, rettete der Arzt meinen Vater vor einem grausamen Tod des Erstickens. Das gab ihm die Möglichkeit, ruhig und in Frieden zu sterben. Ja, in Frieden, denn bei ALS wird das Gehirn als einziges Organ im Körper nicht betroffen. Man bekommt also mit, wie der Körper allmählich verfällt. Hoffnung besteht keine. Man kann nur akzeptieren, dass man irgendwann, wenn man sich gar nicht mehr bewegen kann stirbt - oder mit Glück etwas früher. Und auch dieses ist sehr schwierig: Die Isolierung, die mit dem Verlust der Sprache und der Bewegung der Hand einhergeht. Schwierig auch, dass man nichts tun kann, um sich besser zu fühlen. Keine Aktivierung innerer Kräfte, kein Muskeltraining, keine Medikation: Die Nerven, die die Befehle zur Muskelbewegung geben, sterben nach und nach ab. Diese komplette Hoffnungslosigkeit, die komplette Isolierung und das Eingesperrt-Sein im Körper, über den man keine Gewalt mehr hat machen ALS m.E. zu einer der grausamsten Krankheiten.
Vielen Dank für den Bericht.
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