Patientin (48)

Erfahrungsbericht einer AML-Patientin

von Ines Maria Wallraff (2024 im Alter von 48 Jahren)

#notyourdeadline

Es ist der 08.08.2024, ich sitze in meinem Homeoffice, an meinem viel zu kleinen Schreibtisch, auf meinem 3.000-Euro-Vitra Bürostuhl, der keine einzige gesunde Funktion hat – er ist nur schön. 

Direkt neben mir die WLan-Box, die 24/7 kräftig blinkt, arbeitet und ihre Strahlen in jeden Winkel meiner 60 qm-Wohnung ballert - und in meinen Kopf.

Alles so, wie ich es seit Corona mache; eigentlich so, wie ich es seit 30 Jahren mache.

Ich mache Werbung – im Kopf auch gerne 24/7 - wie meine WLan-Box. 

Und egal, ob ich zu Hause sitze, in irgendeiner fancy Bude auf der Kö oder im Hafen – es ist überall das gleiche für mich.

Ich weiß selten, was der Tag bringt. Ich weiß nie, ob ich mich abends verabreden kann, ob ich zusätzlich zu meinen Jobs noch den fünften annehmen muss oder ob es so ruhig ist, dass ich nicht weiss, was ich in die digitale Stempeluhr eintragen soll damit mir zwei Tage später ein Berater die Hölle heiß macht, weil man dem Kunden zu wenig berechnen kann.

So sitze ich also 30 Jahre in diesen Clean-Desk-Büros; immer die Angst im Nacken, den Dingen nicht gerecht zu werden. Druck, Konkurrenz, internen Spielchen, wirklichen Arschlöchern und unzähligen Überstunden verdanke ich eine andauernd flache Atmung, ständigen Anspannung, viele Zigaretten und jede Mengen Alkohol.

Sind die anderen das jetzt Schuld? 

Natürlich nicht. Ich hätte ja auch was anderes machen können. 

Ich hab aber nie den Absprung geschafft. Es war halt mal cool Werber zu sein und ich dachte immer, ich könne nichts anderes. Am Ende habe ich mich 30 Jahre prostituiert und mich selber von morgens bis abends belogen.

Ich sitze also da zu Hause und arbeite; irgendwie bin ich schlapp, was ich wie immer dem Stress in die Schuhe schiebe oder der Pulle Wein, die ich abends vorher leer gemacht habe um abzuschalten und schlafen zu können. 

Eigentlich geht es mir seit Wochen schlecht, aber ich ignoriere es und glaube, dass die hundert Nahrungsergänzungsmittel das schon irgendwie richten werden.

Aber an diesem einen Tag geht es mir besonders schlecht. Irgendwann will mein Hund Lola raus und ich merke, dass ich gar keine Kraft habe. Lola ist seit 9 Jahren meine größte Liebe und ich tue alles für dieses kleine Wesen. Aber nicht an diesem Tag. Ich frage in unserer dörflichen Facebook-Gruppe, ob irgendwer meinen Hund zum Spazieren gehen mitnehmen könne. Das habe ich noch nie gemacht und setze mich wieder vor meinen Rechner und hacke in die Tastatur bis ich merke, dass mit mir wirklich etwas nicht stimmt. Ich bekomme keine Luft mehr. Und ich bekomme Angst.

Mein Hausarzt ist direkt um die Ecke und irgendwas in mir lässt mich wie ferngesteuert zu ihm gehen. Und ich bin niemand, der da freiwillig oder überflüssig hingeht.

Auf dem Weg merke ich irgendwas in mir, was ich noch nie gefühlt habe und ich kann es nicht wirklich erklären. 

Ich bitte ihn auch wie ferngesteuert um eine Überweisung in die Notaufnahme.

Auf dem Weg nach Hause fällt mir ein, dass ich ein Problem habe. Mein Hund. Die Hundesitterin, die seit Jahren auf sie aufpasst ist im Urlaub. Mir fällt nur eine Nachbarin ein, wo Lola aber noch nie war. Ich whatsappe sie an – ich bin nicht gut darin andere um etwas zu bitten. Aber in dieser Situation habe ich einfach keine andere Wahl. 

Es dauert keine zwei Minuten und sie schreibt mir zurück, dass ich Lola sofort bringen könne, so lange es auch dauern möge.

Hier fange ich an zu lernen, dass man in gewissen Situationen dem Leben vertrauen kann und darf. Genau dieses Muster folgt in den nächsten Wochen ganz oft. Es passiert genau das Gegenteil von dem, was ich denke. 

Und, ich lerne alles genau so anzunehmen, wie es gerade ist; weil alles immer einen Sinn hat – auch wenn ich ihn manchmal gar nicht oder erst sehr viel später verstehe.

Ich schleppe mich den kurzen Weg vom Arzt nach Hause. Die Luft wird immer weniger. Zu Hause krame ich meinen Koffer vom Speicher, werfe ohne nachzudenken irgendwelche Klamotten rein. Ich mache alle Geräte aus, packe eine Tasche für Lola und schließe alles ab. Auf die Idee, jemanden anzurufen, der mir hilft oder mich zum Krankenhaus fährt komme ich nicht. Auch das werde ich in der Zukunft lernen, Hilfe annehmen – alles hat einen Sinn.

Lola ist die ganze Zeit ganz ruhig und guckt mich nur mit ihren riesigen Augen an. Ich setze sie in mein Auto, was sie hasst und sich sonst immer etwas wehrt – sie gibt keinen Mucks von sich – sie merkt es.

Die Übergabe von Lola an die Nachbarin dauert keine 5 Minuten.

Ich küsse Lola auf den Kopf und sage ihr, dass ich bald wieder da bin. Das Wort „wieder“ versteht sie und vertraut mir. Sie geht anstandslos mit der Nachbarin. Und ich selber glaube auch noch, dass ich bald „wieder“ da bin.

Ich fahre 8 Minuten mit meinem Auto zum Krankenhaus. Ich habe auf dem Weg Angst zu sterben.

Stehe dann am Empfang der Notaufnahme in meinem Dorfkrankenhaus – in Hippie-Sommerhose, Flipflops, Tanktop und überdimensionalem Rimowa-Koffer. 

Die Frau am Empfang fragt, ob ich in den Urlaub fahren wolle. Eigentlich habe ich in wirklich jeder Situation einen ausgesprochenen großen Humor – heute nicht.

Ich gebe der Komikerin meine Zettel vom Arzt und warte. Ab hier fängt das Warten an, was ich über Wochen wirklich hart lernen muss an.

Dann schlürft ein dicklicher Pfleger, der eher nach Malle-Urlauber aussieht auf mich zu. Aufgequollenes Gesicht, T-Shirt zu kurz und man kann den Ansatz der Poritze sehen. Er fragt, was ich denn habe und ich sage, ich wisse es nicht. Vielleicht Corona, vielleicht eine Lungenentzündung – irgendwas stimme gar nicht in mir. 

Er guckt mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank und sagt, dann wäre ich in der Notaufnahme falsch, ich solle mich doch bitte am normalen Krankenhausempfang anmelden und die normale Prozedur der Anmeldung durchlaufen.

Verstehe ihn, ich finde Menschen, die die Notaufnahme mit Kopfschmerzen verstopfen auch doof; aber ich spüre ja, dass das in mir was anderes ist.

Ich versuche ihm das noch mal klar zu machen und er atmet nur schwer, als würde ich ihn beim Fußball gucken stören. Na gut – ich gehe Richtung Ausgang und bekomme ein Glück in diesem Moment einen kompletten Atemaussetzer, so dass der Dicke mich gerade noch am Umfallen hindern kann. Er schleppt mich in ein Zimmer und schließt mich an ein Beatmungsgerät an. Er sagt die ganz Zeit nix.

Eine weitere Pflegerin kommt rein – auch sie guckt, als würde ich stören.

Sie stellt Fragen wie ein Soldat und signalisiert mir, dass ich bloss ordentlich antworten soll. Sie stellt mir eine Frage, die ich nicht beantworten kann und sie schneidet mir fast das Kabel für die Luft ab.

Irgendwann nimmt mir jemand Blut ab. Ich liege einfach da, bin froh, dass ich atmen kann und warte. Im Kopf denke ich, gleich kommt einer rein und sagt, Frau Wallraff, sie haben eine dicke Lungenentzündung – wir bringen sie jetzt zum Röntgen und dann bleiben sie ein paar Tage zur Beobachtung hier.

Der Soldat kommt wieder rein und sagt: „es sieht nicht gut mit ihnen aus, es kommt gleich jemand.“

Sie ist komischerweise etwas netter und ihre Körpersprache hat sich verändert.

Eine andere Frau kommt rein und stellt sich als Ärztin vor – Fachgebiet habe ich noch nie gehört. Sie guckt mich mit schiefem Kopf an und atmet so schwer wie der Dicke zuvor – aber netter. Sie sagt: „Frau Wallraff, ich sage es ihnen jetzt ganz unverblümt und erkläre es ihnen dann …

… sie haben Leukämie. Sehr schwer. So schwer, dass wir sie hier nicht behandeln können. Wir bringen sie jetzt gleich in die Uniklinik.“

Heute wundere ich mich, dass ich nicht gefragt habe, ob ich nicht selber fahren könne.

Ich werde in Zukunft noch sehr viel lernen. Alles hat einen Sinn.

Ein paar Minuten später liege ich angeschnallt im Krankenwagen, wie auch mein angeschnallter riesiger Koffer, der aussieht wie meine Begleitung.

Kurz bevor der Fahrer, die Tür zu machen will, kommt der Soldat angerannt.

Sie lächelt mich mit vielleicht auch einer kleinen Träne im Auge an und sagt: „Frau Wallraff, sie können doch nicht einfach so abhauen ohne Tschüss zu sagen; ich wünsche ihnen alles Gute und werde an sie denken.“

Ich bin verwirrt – aber verwirren werden mich noch einige Menschen.

In Schockstarre sagen ich irgendwas und winke mit der angeschnallten Hand.

Der Wagen rollt los und ich sehe noch meinen kleinen smart auf dem Parkplatz, wo ich nicht stehen darf und meine Gedanken kreisen ums Abschleppen, was das wohl kostet und wie ich wieder an mein Auto komme. 

Bis das Tatütata meines Krankenwagens mich aus meinen Gedanken reißt. Übertreibt nicht, denke ich; mit der Atemmaske auf meinem Gesicht geht es mir nämlich eigentlich ganz gut.

Der Verstand wacht auf. 

Was ist eigentlich noch mal Leukämie? Irgendein Krebs - aber welcher fällt mir in dem Moment nicht ein; mein Handy ist zu weit weg.

Ich war noch nie so schnell in Düsseldorf, wie mit diesem Transporter.

Sie schieben mich im Krankenhaus in irgendein Zimmer, wo plötzlich ganz viele Menschen stehen, die alle zu warten scheinen.

Die Kleinste von allen fängt an zu sprechen. Sie ist mir sympathisch, weil wir die gleiche Größe haben, sie sich mir gegenüber verständlich ausdrückt und sehr freundlich ist. Ich vertraue ihr sofort.

Ich kann das Gespräch nicht wirklich wiedergeben, nur in Kurzform.

Sie sagt mir, dass ich eine „akute myeloische Leukämie“ habe. 

Die anderen, die drumherum stehen, nicken alle wie in einem Kasperletheater.

Was ich verstehe ist aber: entweder fangen wir sehr zeitnah eine Chemo an oder sie leben noch höchstens bis zu ca. sieben Wochen. 

Ich dachte, gleich klatscht das Kasperletheater.

Humor ist übrigens der beste Begleiter der ganzen Therapie.

Langsam hab ich das Zimmer realisiert in dem ich alleine liege. 

Der Fernseher ist hinter einer Glaswand, es gibt kein zu öffnendes Fenster, vor meinem Zimmer ist eine Art Schleuse. Überall sind Sprechanlagen. 

Alle die reinkommen und diverse Kabel an, in und um mich anschließen, sind vermummt.

Bis dahin von mir keine einzige Träne, keine Angst, nix. Ich wusste nur, dass ich das jetzt allen da draußen langsam irgendwie mal sagen musste. Telefonieren kam für mich nicht in Frage; ich wusste, wenn ich spreche, brechen alle Dämme und das ganze Geschehene kommt wirklich in meinem Kopf an.

Als erstes habe ich meinem Bruder geschrieben. Kurz. So kurz, dass man den ersten Satz 5-mal lesen musste, um ihn zu glauben. Ich bat ihn, den Rest der Familie zu informieren. Dann habe ich meinen besten Freunden und meinem Arbeitgeber angeschrieben.

Dann weiß ich ehrlich gesagt 3 Tage nicht mehr so viel. Es wurde so viele und heftige Sachen in mich gespritzt, dass ich nicht viel mitbekommen habe. Mein Bruder war da, mein Vater und ich glaube auch Freunde. Ich hab auch diversen Menschen geschrieben und telefoniert, aber ich weiß das jetzt alles nicht mehr.

Mein Körper wurde immer dicker; ich habe in 3 Tagen 15 Kilo zugenommen – alles durch die hunderten Medikamente. Überall blaue Flecken, überall Schmerzen. Überall irgendwas.

Ich hatte nach Einlieferung einen Tag Zeit, mir zu überlegen, ob ich die Chemo mache. 

In dem Leben vor dem 08.08.24 habe ich in Diskussionen, Gesprächen und Gedanken über Krebs eine Chemo immer abgelehnt. 

Seit Corona habe ich sowieso angefangen einiges abzulehnen. Die Welt, das System, Deutschland. 

Und auch ein bisschen mich selber, weil ich erkannt habe, was ich 40 Jahre gemacht habe. 

Vor Corona war ich eine klassische Werberin. Ein bisschen Prada hier, ein bisschen Gucci da, ein bisschen New York und manchmal Monte Carlo.

Unnahbar, oberflächlich, unehrlich, egoman. Na gut - ein bisschen ok war ich anscheinend auch. 

Ich habe dem deutschen System mal vertraut und immer gedacht, dass mich schon irgendwer auffängt, wenn ich falle.

Dann habe ich zum Ende hin auch noch mit einem Mann, den ich nie geliebt habe, ein Haus gekauft und ihn geheiratet. 

Das aufschreien meiner Seele habe ich mit sehr sehr viel Wein betäubt. Heute weiß ich, dass mir dieser Mensch nur als Spiegel über den Weg gelaufen ist. Er hat mir gezeigt, was in mir ist und dass ich so nicht sein möchte. 

Das hört sich jetzt sehr böse an, was ich über ihn sage – aber ich war auf der anderen Seite für ihn auch nur ein Spiegel. Heute ist er glücklich und ich freue mich für ihn.

Kurz vor Corona haben wir uns scheiden lassen. Ich bin erst mal alleine in dem riesigen Haus zurückgeblieben.

Dann ist irgendwas in mir passiert. Alles war plötzlich anders und mir zu fremd. Und noch mehr Alkohol konnte ich nicht trinken, also musste ich was ändern.

Und das erste war Reduktion. 

Mir wurde schlecht, als ich in meine zehn Kleiderschränke geguckt habe und merkte, dass ich gar nichts mehr brauchte.

In den ersten zwei Jahren Corona habe ich dann wirklich fast alles verkauft, was ich besaß. Ich habe mich von 250 qm auf 32 qm verkleinert – mit allem. Und wenn so etwas im Außen passiert, passiert das irgendwann auch im Innen. Ich habe mich von oberflächlichen Menschen getrennt und neue, normale, andersdenkende Menschen in mein Leben gelassen.

So war ich dann in meinem privaten Leben eine andere Ines, als die Agentur-Ines.

Ich habe irgendwann gemerkt, dass das auch nicht gesund ist. Es ist anstrengend zwei Rollen zu spielen. Aber das habe ich bis zu meiner jetzigen Krankheit durchgezogen.

All diese Dinge schreibe ich nur auf, weil ich weiß, dass solche Krankheiten überwiegend aus einem selbst kommen und nicht nur medizinisch zu erklären sind.

Mir war in der Sekunde klar, als die Ärztin sagte, entweder Chemo oder sterben, dass ich die Chemo mache. Ich habe die ca. 100 Seiten „Vertrag“ blind unterschrieben. Ich habe nur gesagt, dass ich nichts wissen wolle. Weder was, noch wann sie irgendwas in mich laufen lassen.

Ich habe in den zwei Jahren zuvor viel gelesen, mich mit anderen Denkweisen beschäftigt, meditieren gelernt, mich versucht von schlechtem fern zu halten und war viel mit mir alleine.

In der Zeit habe ich mir beigebracht, Dingen, die mir nicht guttun, keine Aufmerksamkeit zu schenken. Und so habe ich das auch mit der Chemo gemacht. Ich wusste weder was wie heißt noch bewirkt. Wenn dir einer sagt, davon könnte ihnen schlecht werden, wird dir meist auch schlecht. Ich hab das alles einfach so genommen wie es war.

Ich glaube das war gut. Und was hätte ich auch schon machen können? Ich musste denen vertrauen; ich hatte gar keine andere Chance.

Für fast alle in meinem Umfeld war klar und logisch, dass ich die Chemo mache; da musste man gar nicht drüber sprechen. Bewusst war mir aber, dass es in meinem Leben auch Menschen gab, die grundsätzlich gegen eine Chemotherapie sind. Das ist zum einen, einer meiner sehr guten Freunde. 

Durch ihn habe ich die letzten Jahre sehr viel gelernt und er hat mir geholfen, mein Denken selbstständiger werden zu lassen und auf mich selber zu hören und mir zu vertrauen. Er ist mir sehr wichtig. Es ist mir schwergefallen, ihm zu sagen das ich die Chemo mache. Aber, was ich sehr an ihm schätze, auch wenn er anderer Meinung ist, schätz er die Menschen trotzdem und verurteilt sie nicht. Und genau so hat er bei mir auch reagiert. Er hat es angenommen.

Ganz anders jemand aus meiner Familie. 

Sie hat mir eine Nachricht geschickt mit der Frage: Soll ich dich besuchen kommen?

Einer meiner besten Freunde sagte, das ist die kürzeste Kurzgeschichte der Welt.

Ich konnte darauf auch nicht antworten.

Im Gespräch mit meinem Bruder sagte sie dann, dass die ganze Familie mich jetzt überzeugen müsse, keine Chemo zu machen. Nachdem mein Bruder ihr dann gesagt hat, dass ich schon längst dabei war, hat sie sich nie wieder bei irgendwem gemeldet und das ist jetzt über zwei Monate her. 

Sie lehnt das einfach so sehr ab, dass sie mich direkt mit abgelehnt hat.

Ich wollte gerade anfangen sie zu beschreiben und sie zu erklären, aber das lehnt jetzt meine Seele und meine Zeit ab. Alles hat einen Sinn.

Meine Chemo startet, sie heißt 7+3+GO– 

könnte auch ein Liedtitel der fantastischen Vier sein. 

Anders übersetzt arbeitet die Chemo wie mein WLan-Router: 24/7, an Tag 3 gibts noch mal 1.000 Mbit/s extra und mit „go“ bekommt man noch mal ein Systemupdate.

Da ich ja von nichts eine Ahnung hatte und allen gesagt habe, dass ich nichts wissen will, fließt halt irgendwas in mich rein. Ab und an muss einer der Pfleger oder Ärzte das Wort „Chemo“ sagen. Ich überlege mir mit einer Pflegerin zusammen ein neues Wort – wir taufen die Chemo um in „Happy Juice“.

Vielleicht ist das für den ein oder anderen albern – mir hat das aber geholfen. Ich habe versucht alles Negative in Positives umzuwandeln. 

Meine Fingernägel z. B. wachsen alle komplett raus. Also der alte Nagel wächst raus und von unten kommt der Neue nach. Jetzt könnte man heulen, weil es echt scheiße aussieht. Aber man kann auch einfach denken, mein Körper bekommt gerade einen Neustart; dauert halt etwas, aber am Ende ist alles neu und funktioniert besser als vorher. Positiv manifestieren.

Von nun an lief also 24 Stunden irgendwas in mich plus all die anderen Flaschen, Beutel und Spritzen. An Tag eins wurde mir ein Katheter am Hals eingebaut. Bedeutet ca. 5 Zugänge für alles was flüssig ist, außer Alkohol. Ich hatte ein festes Kabel am Hals, was auch an eine Art WLan-Router angeschlossen war, was genau bis zur Toilette reichte.

Die Toilette war der einzige Raum, wo ich mal für einen Augenblick wirklich alleine war.

Manchmal wurde bei allen Kabeln ein Systemneustart gemacht, dann konnte ich mich mal kurz frei bewegen.

Irgendwann sagte jemand, Morgen ist der letzte Tag „Happy Juice“.

Ich habe wirklich wirklich die ganzen Tage über nichts gemerkt. Ich habe in der Zeit mein ganzes Leben organisiert – mein Testament geschrieben, Vollmachten verteilt, allen überall Bescheid gesagt, viel Besuch gehabt und und und. Und da ich manchmal einen kleinen Hang zur Überheblichkeit habe, hab ich gedacht, ach – war doch gar nicht schlimm – also ohne Tatütata.

Das war nicht schlimm, weil ich nicht wirklich informiert war.

Das anstrengende kam erst danach. Plötzlich wurde der Körper ganz leer – ich weiß nicht, wie ich das anders beschreiben soll. Jetzt kam zu der körperlichen Ebene noch die psychische. Ich war nicht mehr ich und ich fühlte mich wie Plastik, wie unecht.

Dazu unendliche Magenschmerzen, kein Schlaf, Kopfschmerzen ... ach, einfach alles. 

Die Schmerzen bekommt man irgendwie mit Medikamenten auf die Reihe; also zumindest so lange, bis der Körper die Medikamente nicht mehr wahrnimmt. Das seelische muss man allerdings selber hinbekommen. 

Es gibt da diese kleine Tablette namens Tavor – aber erstens macht die abhängig und verliert auch irgendwann ihre Wirkung. In der ersten Phase war sie mir aber ein guter Freund. Besser waren allerdings in schwierigen Momenten Familie, Freunde und Pfleger.

Das äußerliche war mir irgendwie gar nicht so wichtig. Ich habe so viel Zeit meines Lebens mit meinem Aussehen verbracht – hier muss ich keine Überstunden machen. Nach der ersten vollen Haarbürste hab ich eine Pflegerin gebeten mir ein Glatze zu rasieren. Mein Körper sieht aus wie ein altes faltiges Hühnchen. Aber das sind alles Dinge, die sich von selber wieder regulieren.

Die Chemo macht alles im Körper platt – bevorzugt aber die Organe, die vorher schon nicht in Ordnung waren. Plötzlich liege ich nachts im CT und habe einen Darmverschluss. Eine Magensonde und wochenlang künstliche Ernährung lassen mich weiterleben. 

Dann liege ich plötzlich auf der Intensivstation und bekomme keine Luft mehr. Schwere Lungenentzündung, fast hätten sie mich ins Koma gelegt – was mir in dem Moment das Liebste gewesen wäre.

Das war das erste Mal, wo ich wirklich aufgeben wollte. Ich konnte nicht mehr.

In Gedanken hab ich mir alle Kabel aus dem Körper gezogen und mir ein Taxi bestellt. Ich wollte nur noch nach Hause.

Noch mehr Antibiotikum, noch mehr Kabel, noch mehr Ärzte.

Als irgendwann eine Physiopflegerin in der Tür stand und sehr lustig sagte, heute lernen wir das Atmen neu, wusste ich, dass ich es überlebt hatte.

Nach einer Woche kam ich dann auf eine normale Station, auf der ich immer noch bin.

Ein neuer Arzt, der mir von allen am meisten ans Herz gewachsen ist.

Er hat von heute auf Morgen alles reduziert. So schnell, dass ich das gar nicht verstanden habe. Er war der erste, der sich an mir nicht nur sein eigenes Fachgebiet angeguckt hat. Er hat alles ganzheitlich betrachtet und vor allen Dingen auch meinen persönlichen Zustand. Er hat von Anfang an gesagt, Fr. Wallraff – sie müssen mal ein paar Tage nach Hause um gesund zu werden.

Auch wenn die Punktion meines Knochenmarks das noch nicht hergibt. Momentan sind die Leukämie-Zellen alle platt, aber mein Körper produziert noch keine neuen guten Zellen, die Leukozyten

Ich glaube, ich bin jetzt eine Woche hier auf der normalen Station. Leider habe ich sehr viel vergessen, weil ich mir nichts aufgeschrieben habe.

Wenn ich eins allen normal krankenversicherten Menschen und auch nicht-kranken Menschen raten möchte – das wichtigste ist eine Zusatzversicherung. Oder man zahlt den Aufpreis für ein Einzel-, oder Zweibettzimmer.

Jetzt gerade sitze ich an einem kleinen Schreibtisch und gucke aus dem Fenster über Düsseldorf; ohne Kabel in mir, ohne Magensonde – ich bin frei. Ich darf essen und vor allen Dingen nach draußen an die frische Luft. Und vor allen allen Dingen darf ich in zwei Tagen für ein paar Tage nach Hause. Nach über zwei Monaten Uni ist das für mich das wichtigste – egal, was danach passiert. Geplant sind weitere nicht mehr ganz so harte Chemos. Also immer ein Wechsel zwischen stationär und ambulant. 

Und wenn das alles nicht funktioniert eine Knochenmarktransplantation. Mein Bruder hat sich gestern hier für mich testen lassen und man sucht schon mal vorsorglich bei DKMS.

Man kann aber auch alles aus einer ganz anderen Perspektive sehen.

Wer verdient was an all dem? Wenn man diese Frage aufschlüsselt, ist man sehr lange beschäftigt und bekommt sehr viele Antworten, die auch nicht abwegig sind. 

Und auch sehr viele alternative Heilmethoden. 

Ich habe von Anfang an mein Baugefühl entscheiden lassen. Und das werde ich genau so weiter machen. Ich denke, man erkennt an meinem mangelndem, medizinischen Wissen, dass ich auch nichts gegoogelt habe.

Ich erfahre gerade eine Glücklichkeit in mir, die so explosiv ist, dass es Dritte wahrscheinlich schon nervt, weil es zu viel ist. Aber ich versuche sie zuzulassen und alles andere weg zu lassen. Meine Chance, das zu überleben kenne ich nicht. Ob ich genug Kraft habe, das weiter zu machen, weiß ich nicht. Ob ich wirklich Übermorgen nach Hause darf, weiß ich auch nicht. Wenn ich hier eins gelernt habe, dass jede Sekunde alles anders sein kann. Man sollte lernen, die Dinge so zu nehmen wie sie sind, ohne zu verzweifeln – die Angst loslassen.

Aber das wichtigste - ich bin jetzt innerlich frei, für alles was kommt. 

Klar werden diverse harte Momente und Phasen folgen - aber ich bin voll mit Lösungen. 

Liebe Grüße, 

Ines (48 Jahre)

 

 

Das ist eine privat geschriebene Geschichte,
ohne medizinisches Wissen oder Recherche.

Geschichte/Erfahrungsbericht ist für alle relevanten Seiten, die mit Krebs zu tun haben. 

Darf überall geteilt werden. 

Lesezeit: xy Minuten

Ich entschuldige mich für das hin- und herspringen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sowie Rechtschreibfehlern.

Das ist Part eins meiner Geschichte.Der Rest folgt, wenn ich ihn erlebt habe.

Da geht es dann u.a. auch um:
Freunde
Menschen, die plötzlich Freunde werden
Ernährung
Gelüste
Vorbereitung 
notwendige Dinge
Hilfestellen 
Leistungen vom Staat/Bundesland
Körperpflege
Nahrungsergänzungsmittel 
Bewegung
Kommunikation
Job
Kleidung 
Angst

 

Vielen Dank für den Bericht an
Ines Maria Wallraff